Beitrag im Tagesspiegel, 5. November 2017

Befindet sich Russland in seiner post-europäischen Phase und was würde das für die Beziehungen zur EU bedeuten? Dazu haben der russische Publizist Alexander Dynkin und ich jeweils einen Debattenbeitrag im Tagesspiegel veröffentlicht.

Russlands politische Beheimatung in der EU ist vorläufig gescheitert. Dass es für die Zukunft kein Konzept gibt, ist gefährlich. Der Gedanke, dass wir es heute mit Russland in seiner posteuropäischen Phase zu tun haben könnten, heißt, ein festgefugtes europäisches Selbstbild infrage zu stellen. Nach unserer westlich-europäischen Selbstwahrnehmung wurde mit dem Ende des Kalten Krieges die Spaltung Europas überwunden und eine neue europäische Friedensordnung erzeugt. Genauso klar und eindeutig war, dass Russland zu diesem Europa dazugehört.
Dass Russland "noch nicht so weit war“, wurde als Zeitund Übergangsproblem angesehen, aber nicht als existenzielle Frage des Dazugehörens. Diesen westlich-europäischen Selbstgewissheiten und Selbstverständlichkeiten standen von Anfang an in Russland eine zwangsläufige Identitätskrise und Identitätssuche in der neuen Zeit gegenüber. Im Laufe der Zeit hat sich höchstwahrscheinlich in den Augen von Wladimir Putin die Erfahrung des Fehlschlagens von Modernisierung nach westlichem Vorbild zur Erkenntnis der Unmöglichkeit von Modernisierung verdichtet, wenn nicht die Machtfrage gestellt werden soll. Zu der kollektiven Frustration und Selbstunsicherheit hat sich also Machtunsicherheit an der Spitze des Staates gesellt.
25 Jahre hat sich diese Begegnung von westlich-europäischer Gutwilligkeit, Gedankenlosigkeit und Überheblichkeit mit tiefst sitzender russischer Selbstverunsicherung und zunehmender Systembedrohung abgespielt. Dieses Kapitel ist mit der Annexion der Krim beendet worden. Als Ergebnis kann festgehalten werden: Die politische Beheimatung Russlands in Europa ist gescheitert. (...) Ob Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Respektierung der territorialen und politischen Unabhängigkeit anderer Staaten - alles, was die politische Identität Europas konstituiert, wird seither von Russland infrage gestellt oder aktiv bekämpft. Das, was als defensive, taktische, eher ratlose Reaktion begann, hat sich inzwischen zu einer umfassenden Machtstrategie Russlands entwickelt. Putins Russland hat sich entschieden, wieder zurückzuwollen an einen zentralen Platz auf der politischen Weltbühne. Messeinheit hierfür ist Augenhöhe mit den USA. Dies soll aber nicht mehr durch die Modernisierung Russlands nach westlichem Vorbild, sondern durch das selbstbewusste Sich-Erheben über die internationalen Regeln erreicht werden. Der Durchsetzungserfolg hierfür hängt davon ab, dass die internationale Gemeinschaft im Laufe der Zeit die erreichten machtpolitischen Resultate akzeptiert, weil damit eine faktische Legitimierung dieses Ansatzes erreicht werden kann. Geschähe das, hätten wir eine neue Spaltung Europas. Es gibt zwar kein homogenes Lager der illiberalen, autoritären, auf Nationalismus setzenden Staaten, aber unbestreitbar hat sich ein neuer geopolitischer Antagonismus zwischen den liberalen Demokratien einerseits und ihrem Anti-Modell entwickelt. (...)
Was folgt aus dieser Einschätzung für die russlandpolitische Strategie der Europäer und des Westens? Erstens, dass wir eine haben sollten. Zweitens ist die Einheit des Westens seine eigentliche Stärke. Entweder gibt es eine transatlantische Russlandpolitik, oder die Spaltung des Westens - ob von Europa oder neuerdings von den USA aus - wäre der größte Erfolg von Putins Strategie. Drittens wird die Auseinandersetzung mit der 'gegenwärtigen Politik Russlands asymmetrisch bleiben; das heißt auch auf militärisches Agieren kann es nur politische Antworten geben. Gerade darum ist aber viertens die grundsätzliche Nicht-Akzeptanz der Methoden, die sich prinzipiell gegen den Primat des internationalen Rechts wenden, elementar. Hierin liegt der entscheidende politische Sinn der Ukraine-Sanktionen. Fünftens muss uns bewusst sein, dass Dilemmata im Umgang mit Russland unvermeidlich sind, und wir müssen lernen, pragmatisch mit ihnen umzugehen. So erscheint es mir geboten, mit Russland die Möglichkeiten politischer Lösungen in Syrien weiter auszuloten.
Die gegenwärtige russische Politik der Stärke ist aus Schwäche geboren, nämlich aus der Unmöglichkeit der Modernisierung im Rahmen des Systems. Sie wird für eine ganze Zeit, aber nicht dauerhaft Bestand haben. Die EU und das Verhältnis zwischen der EU und den USA befinden sich ebenfalls in einer - strukturellen - Schwächeperiode. Alle Beteiligten haben schon für sich selbst kein wirkliches Konzept. Das macht ein zusätzliches und nicht das ungefährlichste Problem unseres Verhältnisses zu Russland aus.

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