Röttgen fordert mehr deutsches Engagement - auch militärisch

27.03.2016
Interview

Tagesspiegel

CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen plädiert für ein größeres Engagement bei internationalen Konflikten. Die EU sieht er in der schwersten inneren Krise seit der Gründung.

Herr Röttgen, welche Lehren muss die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik aus den Terroranschlägen von Brüssel ziehen?

Wir müssen uns noch stärker als bisher in internationale Konflikte einschalten und die Ursachen von Gewalt bekämpfen. Was in unserer Nachbarschaft passiert, kann uns nicht egal sein.

Viele Deutsche würden sich aber am liebsten  nur um das eigene Land kümmern. Werden die Anschläge nicht viele in der Hoffnung bestätigen, dass  wir hier sicherer leben könnten, wenn wir uns in Konfliktregionen nicht einmischen würden?

Es wäre gefährlich, wenn die deutsche Außenpolitik diesem frommen Wunsch folgen würde. Denn dann könnten wir uns vor Bedrohungen nicht schützen. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass das nicht passieren wird. Die Mehrheit der Deutschen weiß: Wir können uns nicht wegducken. Ich glaube, das Verständnis dafür wächst, dass kein Land alleine Sicherheit schaffen kann und Deutschland sich noch stärker international engagieren muss als bisher.

Was stimmt Sie so optimistisch?

Die Flüchtlingskrise hat doch vielen Menschen vor Augen geführt, dass wir uns nicht abschotten können von der Welt. Siebzig Jahre lang haben die Menschen in Deutschland Stabilität erlebt. Dann sind wir vor zwei Jahren in eine neue Phase der Geschichte eingetreten. Russland stellte in der Ukraine gewaltsam die europäische Nachkriegsordnung infrage. Im gleichen Jahr eroberte die Terrormiliz „Islamischer Staat“ im Nahen Osten ganze Regionen. Darauf müssen wir reagieren. So ein Lernprozess braucht Zeit, aber es geht voran.

Woran messen Sie das?

Seit zwei Jahren dreht sich die politische Debatte in Deutschland fast nur noch um internationale Konflikte. Das ist neu und hat seine Wirkung. Zudem zeigt das Verhalten der Deutschen in der Flüchtlingsfrage eine hohe Reife unserer Gesellschaft. Die Mehrheit der Deutschen hat sich der neuen Herausforderung und der Not der Menschen gestellt und ist weiterhin bereit zu helfen.

Zur politischen Reife gehört  auch, dass man die Folgen seiner Handlungen bedenkt. Hat die deutsche Politik in der Flüchtlingskrise genug Rücksicht auf die anderen Europäer genommen?

Die deutsche Politik  stand und steht in einer außergewöhnlichen Belastung. Aber wir müssen auch aus Fehlern lernen, alles andere wäre vermessen. Ich glaube, wir müssen Richtigkeit und Einigkeit in ein besseres Verhältnis setzen.

Manche bescheinigen den Deutschen in der Flüchtlingskrise moralischen Imperialismus. Ist der Vorwurf so falsch?

Ich teile das überhaupt nicht. Dass ein europäisches Problem eine europäische Lösung braucht, hat vor allem etwas mit Pragmatismus zu tun. Wenn das auch noch moralisch gut ist, ist es umso besser.

Es gibt nun ein Abkommen zur Sicherung der europäischen Außengrenze und zur Rücknahme von Flüchtlingen zwischen der EU und der Türkei. Was muss die EU in den Konfliktregionen selbst tun, damit die Flüchtlingskrise unter Kontrolle gebracht wird?

Wir müssen viel mehr tun. Der Migrationsdruck nach Europa aus dem Nahen Osten und Afrika wird noch lange andauern. Wir müssen die völlig neue Dimension dieser Herausforderung verstehen. Im Kern geht es doch darum: Millionen von Menschen in einer von Krieg, Terror und Verzweiflung erschütterten Region stellen uns vor die Wahl. Sie sagen: Entweder gebt ihr uns einen Teil eures Wohlstandes ab, damit wir überleben können. Oder wir kommen zu euch und holen uns einen Teil eures Wohlstandes. Entweder wir lösen die Probleme dort, oder die Probleme kommen zu uns.

Das heißt praktisch?

Wir müssen unsere diplomatischen Initiativen verstärken und um eine militärische Komponente erweitern, wir müssen den wirtschaftlichen Aufbau dort in Gang bringen, wir müssen Länder der Region viel stärker unterstützen, die Flüchtlinge aufgenommen haben…

Und mit Ländern wie Russland politische Lösungen für den Syrienkonflikt finden?

Die monatelangen Bombardements der russischen Luftwaffe in Syrien haben unendlich viel Leid über das Land gebracht und Zehntausende in die Flucht getrieben. Auch von einem vollständigen Abzug der russischen Armee kann ja trotz Putins Ankündigung keine Rede sein. Aber wenn sich jetzt die Gelegenheit für einen politischen Prozess ergibt, müssen wir sie ergreifen.

Ist die Europäische Union in ihrer derzeitigen Verfassung in der Lage, auf all diese Herausforderungen angemessen zu reagieren?

Im Moment leider nicht. Während wir diese dramatische Herausforderung von außen erleben, ist die Europäische Union gleichzeitig in der schlechtesten Verfassung seit den Römischen Verträgen. Wir müssen alles tun, um unsere innere Krise zu überwinden, die uns kompromiss- und handlungsunfähig macht. Das wird nur gelingen, wenn wir wieder zur Solidarität zurückfinden.

Warum schaffen es die EU-Staaten nicht, sich zusammenzuraufen?

Weil überall der staatliche Egoismus dominiert. Wir haben offensichtlich noch immer nicht den Ernst der Lage erkannt. Wir reagieren statt zu agieren, und das meist zu spät. Der Bestand des Euro ist nicht gesichert, es gibt noch immer keine europäische Antwort auf die Flüchtlingskrise, und auch die gesellschaftlichen Herausforderungen in Transformationsstaaten Osteuropas haben wir völlig unterschätzt. Die Folge ist, dass jetzt selbst ein Erfolgsland wie Polen von einer Regierung geführt wird, die den europäischen Kurs infrage stellt. Wenn das so weitergeht, sind am Ende alle Verlierer. Der größte Verlierer eines nicht funktionierenden Europas wäre Deutschland.

Was ist der Kern der aktuellen Krise?

Es gibt drei große spaltende Themen: die Wirtschaft, Russland und die Flüchtlinge. Innerhalb der EU gibt es hier ganz unterschiedliche Prioritäten. Für Frankreich und Italien hat die Wirtschaft Priorität, für Polen und die Balten die Bedrohung durch Russland und für Deutschland die Flüchtlingskrise. Deshalb müssen wir wieder zusammenkommen – und alle drei Probleme lösen.

Überall in Europa wachsen populistische Parteien und Bewegungen, auch in Deutschland. Hat Europa überhaupt noch eine Basis?

Rechts- und Linkspopulisten verbreiten die Illusion, dass wir unsere Probleme durch den Rückzug auf die nationale Identität und die Schließung von Grenzen lösen können. Dieser Illusion erliegen die Menschen nur,  wenn Europa es nicht schafft, seine Bürger davon zu überzeugen, dass europäische Lösungen funktionieren. Das geht weit über die Flüchtlingskrise hinaus.

Das müssen Sie uns erklären…

Ein Europa, das in Ländern wie Frankreich oder Italien über Jahre hinweg eine Jugendarbeitslosigkeit jenseits der 25 Prozent zulässt, kann diesen jungen Menschen gegenüber doch nicht glaubwürdig vertreten, dass ihre Zukunft in Europa liegt.

Kann man Deutschland und die anderen EU-Staaten denn für die Wirtschaftspolitik in Frankreich haftbar machen?

Wir dürfen uns jedenfalls nicht darauf zurückziehen, dass Probleme wie Jugendarbeitslosigkeit  nationale Probleme sind. Die wirtschaftliche und soziale Lage in Frankreich hat zu einem politischen Stillstand geführt, der am Ende auf Deutschland zurückschlägt. So funktioniert weder unsere Partnerschaft noch kann Frankreich seine führende Rolle in Europa ausfüllen.

Welche Schlussfolgerung sollten die Deutschen daraus ziehen?

Wir sollten uns sehr genau vor Augen führen, was es für Gesellschaften bedeutet, wenn über Jahre hinweg Teile der Bevölkerung in der Gesellschaft keinen Platz finden. Wenn die Frustration über fehlende Perspektiven zum Massenphänomen wird, kann das dazu führen, dass sich ganze Gruppen von der Demokratie und von Europa  abwenden. Deshalb muss Deutschland noch in weit stärkerem Maße eine Politik  unterstützen, die in den Problemländern der EU die soziale Spaltung überwindet und Arbeitsplätze für junge Menschen schafft. Auch wenn das Geld kostet.

Das Gespräch führten Hans Monath und Ulrike Scheffer.